Rudelstellung

Von einigen meiner Kunden wurde ich auf die sogenannte Theorie der Rudelstellung angesprochen und um meine Meinung gebeten. Um auch Ihnen einen Überblick und unsere Einschätzung zu diesem umstrittenen Ansatz zu geben, möchte ich hier kurz darlegen, was unter dem Begriff zu verstehen ist und welche Meinung wir dazu vertreten.

Weiterführende Informationen finden Sie in den unten aufgeführten Links.

Wenn Sie gleich unsere Meinung lesen wollen, weil Sie schon wissen, was Rudelstellung bedeutet, klicken sie hier. Wenn Sie nur an unserem Fazit interessiert sind, klicken Sie bitte hier.

 

Was bedeutet Rudelstellung

 

Jedes Hunderudel besteht aus spezialisierten Individuen. Davon gibt es genau sieben:
Vorderer Leithund
Vorderer zweiter Bindehund
Vorderer dritter Bindehund
Zentraler Bindehund
Hinterer zweiter Bindehund
Hinterer dritter Bindehund
Hinterer Leithund

Die Stellung eines Hundes im Rudel wird nach dieser Theorie genetisch/epigenetisch vom Elternpaar festgelegt. Dabei sorgen die Elterntiere dafür, dass fehlende Positionen im Rudel aufgefüllt werden und Doppelbesetzung vermieden werden. Es werden nur Welpen mit den erforderlichen Stellungen geboren.

Die Rudelstellung eines jeden Tieres und damit sein Verhalten und sein Wesen ist also angeboren und später nicht mehr veränderbar. Ein Hund, der in einem Rudel auf einer Position leben muss, die nicht seiner angeborenen Stellung entspricht, wird unausgeglichen oder sogar krank mit fatalen Folgen für sich und das gesamte Rudel.

Die Rudelstellung eines Hundes ist an seiner Position in der ersten Schlafphase nach dem Wurf abzulesen. Weitere Faktoren wie Rasse oder Anzahl der Welpen spielen keine Rolle. Der Welpe legt sich automatisch an die richtige Stelle neben seine Geschwister.

 

Nach der Theorie sind die meisten Zuchthunde heutzutage nicht mehr in der Lage, vollständige oder passende Würfe zu produzieren. Als Ergebnis sind die Welpen in ihrem Wesen verkümmert und zu keiner stabilen und starken Sozialbindung fähig.

Schließlich leitet das Konzept Handlungsanweisungen für Ausbildung und Haltung eines Hundes von seiner Rudelstellung ab. Auch die Zusammenstellung von Hunden in einer Familie soll streng nach den notwendigen Positionen erfolgen. Einige dieser angeborene Rudelstellungen sind für uns Menschen vorteilhaft, andere sind nachteilig.

Die Rudelstellung klassifiziert auch Elterntiere und hat weitere Aspekte. Das gerade Dargelegte umfasst nur die Kernaussagen.

 

Unsere Meinung

 

Wissenschaftliche Methodik

 

Für die durch das Rudelstellungsprinzip getroffenen Aussagen gibt es keinerlei wissenschaftlichen Hintergrund. Vielmehr findet man sektenhafte Züge bei Verkündern und Anhängern.

Das Konzept soll von dem Gärtnermeister Karl Werner (1977 verstorben) entwickelt und 1968-1969 ausschließlich an Barbara Ertel weitergegeben worden sein. Schriftliche Aufzeichnungen existieren nicht.

Auch heute verweigern sich die Anhänger einer sachlichen Diskussion oder entsprechender Zusammenarbeit. Zwar wird die Geburtsstellung der Welpen ausführlich erläutert, wie aber vom Verhalten eines erwachsenen Hundes auf seine Rudelstellung zu schließen ist, bleibt das Geheimnis von Barbara Ertel und ihren „Jüngern“. Ein Interesse an wissenschaftlichen Forschungen besteht nicht.

Auf Veranstaltungen kann man seinen Hund begutachten lassen und mal eben tauschen, wenn er denn nicht die passende Stellung hat. Frau Ertel ist angeblich sogar anhand von Fotos (schlafender Welpen genauso wie von erwachsenen Wölfen) in der Lage, die exakte Rudelstellung eines Tieres zu beurteilen. Wohl bemerkt, ohne den Kontext zu kennen.

 

All das lässt viele Fragen offen und erscheint uns doch zumindest sehr seltsam:

Wieso gibt es genau sieben Stellungen?
Wieso ist es genau die erste Schlafposition, in der sich die Rudelstellung manifestiert?
Was ist mit Würfen von mehr oder weniger als 7 Welpen?
Müssen wir jetzt alle so viele Hunde halten, dass wir einen Sozialverband von sieben Individuen bilden?
Warum ist das selbst bei Frau Ertel nicht der Fall?
Was passiert mit den Tieren, die nachteilige Stellungen haben? Geben wir diese in Zukunft einfach weg oder töten sie gar, um ihnen ein „furchtbares“ Schicksal in falscher Position zu ersparen?

 

Inhaltliche Einschätzung

 

Wie im vorigen Abschnitt schon angedeutet, gibt es so viele Fragen zu diesem Konzept, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll. Versuchen wir es erst einmal mit den Kernaussagen:

 

Gibt es Spezialisierungen in einem Hunderudel?

Selbstverständlich. Jedes Hunderudel ist eine komplexe soziale Gruppe mit vielfältigen Interaktionen und recht genau definierten Rollen.

 

Gibt es unterschiedliche Charaktere und Wesenszüge bei Hunden?

Unbedingt! Wir sehen das sowohl in unserer Hundeschule als auch in den Würfen unserer Hunde. Es ist ein grundlegendes Prinzip unserer Arbeit mit den Hunden, dass man individuell auf jeden Hund eingehen und die Erziehungsmethode entsprechend anpassen muss.

 

Gibt es genau sieben unterschiedliche Positionen in einem Rudel?

Wohl kaum. Bei freilebenden Wölfen findet man Gruppierungen jeder Größe von nur zwei oder drei Tieren bis zu Gruppen von 40 und mehr (z.B. im Yellowstone Nationalpark). Auch Hunde leben nur höchst selten in Gruppen von 7. Seit zehntausenden Jahren werden diese Tiere durch Zuchtwahl verändert und vereinzelt, ohne dass auf diese Theorie Rücksicht genommen wurde - wie soll sich da eine solche Struktur erhalten? Selbst wenn es diese Mechanismen beim Wildtier einmal gegeben hat, durch die Domestizierung und die Haltungs- und Zuchtbedingungen kann nichts mehr davon übrig sein.

 

Ist die erste Schlafstellung ein aussagekräftiger Zustand?

Wer neu geborene Welpen schon beobachtet hat weiß, dass nur kleine Berührungen seitens der Mutter, eines Welpen oder des Menschen zu einer anderen Liegepositionen der Welpen führen. Wie soll man den richtigen Moment abpassen, in welchem die Welpen die entscheidende Stellung eingenommen haben? Führt das nicht unweigerlich zur Fehleinschätzung?

Wir halten es für unverantwortlich, auf Grundlage einer zweifelhaften Idee über neu geborene Welpen zu urteilen, die völlig unbewusst durch die Wurfbox robben, Wärme, eine bequeme Liegeposition oder die Futterquelle (Mama) suchen, denn viel mehr können und bedürfen sie ja noch nicht.

 

Ist ein Hund schon bei der Geburt und dann lebenslang auf ein Wesen und ein Verhalten festgelegt?

Jede wissenschaftliche Erkenntnis und unsere langjährige Erfahrung sprechen absolut dagegen. Das Verhalten und Wesen jedes Tieres ist durch viele Faktoren geprägt. Die genetische und epigenetische Ausstattung ist nur einer davon. Alle Einflüsse, die einem Hund in seinem Leben widerfahren, verändern sein Wesen und sein Verhalten. In jungen Jahren sicher mehr als bei älteren Hunden. Aber auf keinen Fall ist das Verhalten des Hundes ausschließlich genetisch disponiert. Insofern deckt sich unsere Erfahrung auch mit vielen wissenschaftlichen Untersuchungen.

 

Wird ein Hund unausgeglichen oder gar krank, wenn er seinem angeborenen Wesen zuwider leben muss?

Diese Frage ist am schwierigsten zu beantworten und am einfachsten zugleich. Erst zum Einfachen: Unserer Ansicht nach wird es so komplexen und vielschichtigen, flexiblen und intelligentem Wesen wie unseren Hunden schlicht und einfach nicht gerecht, sie in sieben Schubladen zu pressen, aus denen sie nicht ausbrechen dürfen.
Werfen wir zuerst einen Blick auf ein Wolfsrudel. Wenn durch ein Ereignis ein oder mehrere Tiere des Rudels ausfallen, müssen andere Rudelmitglieder sofort deren Aufgaben übernehmen. Eine starr auf die Rudelstellung bezogene Gemeinschaft wäre zu unflexibel.

Der Verlust eines Tieres ist in der Wildnis mit Sicherheit kein seltenes Ereignis. Tiere, die durch den dann notwendigen Wechsel der Rolle im Rudel krank werden und leiden, haben einen deutlichen Fortpflanzungsnachteil. Der Rest ist Evolution. Es haben sich eben gerade die Wesenszüge verstärkt, die das Tier flexibel und anpassungsfähig machen.

Auch in unserer Hundeschule erleben wir immer wieder, dass jeder Hund erziehbar und zu entsprechendem Verhalten gebracht werden kann und dieses Verhalten dann freudig, stressfrei und in Harmonie beibehält.


Warum ist die Frage dann schwierig zu beantworten? Weil tatsächlich jeder Hund einen eigenen Charakter und ein eigenes Wesen besitzt. Diesem muss man unbedingt Rechnung tragen – in den Erziehungsmethoden und bei der Ausgestaltung der Freizeit. Es hängt vom Hundetyp ab, mit welcher Methode ich bei seiner Erziehung Erfolg habe. Es hängt auch vom Hundetyp ab, ob ich mit meinem Tier Agility trainiere, Such- und Fährtenspiele treibe oder es vor Schlitten und Wagen spanne. Die rassetypischen Merkmale spielen da sicher eine große, aber nicht die ausschließliche Rolle.

Gehorsamkeit und Folgsamkeit aber muss und kann jeder Hund lernen, unabhängig von Charakter und Typ und ohne ihm eine Rudelstellung zugestehen zu müssen.

Unsere Hunde sind durch über 10000 Jahre Zuchtwahl zu dem geworden, was sie heute ausmacht. Auf eine Rudelstellung hat über den gesamten Zeitraum kein Züchter Rücksicht genommen. Wie soll dieser Mechanismus dann noch vorhanden sein? Selbst Instinkte und Triebe sind über diesen Zeitraum grundlegend modifiziert worden. Und: Ein natürliches Zusammenleben in der Gruppe kennen seit tausenden Jahren nur die wenigsten Hunde. Wir glauben nicht, dass es die Rudelstellung bei Wildtieren je gegeben hat. Dass sie sich aber über die lange Zeit der Zuchtwahl und Ausdifferenzierung der Rassen erhalten haben soll, ist geradezu absurd.

Allen Hunden aber ist gleich, dass sie sehr lernfreudig sind und sich flexibel auf jede neue Situation einstellen können. Das wird von Frau Ertel vollkommen negiert.

 

Unser Fazit

Das Konzept der Rudelstellung lässt sich nicht schlüssig nachvollziehen. Bei der Art und Weise, wie das angebliche Wissen darüber geheimgehalten wird, muss man fast von einer Sekte reden.

Wir finden es entwürdigend unseren Hunden gegenüber, sie nicht als intelligente, lern- und anpassungsfähige Gefährten zu betrachten, sondern versehen mit einem vorbestimmten Wesen, dem man sich und den Hund machtlos unterwerfen muss.

 

Wir finden es gefährlich, wenn Hunde auf Tauschbörsen hin- und hergeschubst werden ohne die Chance, in einer Familie Fuß zu fassen. Hundebesitzer werden nicht nur verunsichert, sondern es wird ihnen auch geradezu suggeriert, einen Hund abzugeben, anstatt ihn zu erziehen. Es liegt dann einfach an der falschen Rudelstellung. So werden vollkommen falsche Vorstellungen geweckt.

Das ist dabei das tatsächlich Makabre an der ganzen Geschichte. Mag jeder an noch so esoterische Ideen glauben, kein Problem. Aber die Folge der Rudelstellung ist: Nicht der Hundehalter trägt die Verantwortung für ein harmonisches Miteinander, sondern eine ominöse, genetisch festgelegte Ausprägung des Tieres. Wie bequem! Da tausche ich das Tier einfach weg. Wunderbar, Problem gelöst!

 

Seit über 15 Jahren betreibe ich meine Hundeschule mit großem Erfolg. Die ersten Schritte im Erziehungsprozeß betreffen immer, bei jedem Hund, das Verhalten der Menschen im Alltag. Ich muss darauf achten, dass ich vom Hund immer das Gleiche in der selben Art und Weise verlange. Das schafft für ihn Klarheit und macht ihm das Leben leicht. Verhalte ich mich inkonsequent und wechselhaft, versucht der Hund immer wieder mit den unterschiedlichen Bedingungen klar zu kommen. Jedoch verunsichert ihn das und schmälert sein Vertrauen in unsere Führungsqualitäten. Sind Hundebesitzer plötzlich klar und konsequent gegenüber ihrem Tier, berichten sie uns von einer geradezu erstaunliche Veränderung im Verhalten ihres Hundes. Das Tier wird entspannter und folgsamer. Auf dieser Grundlage bauen wir dann die Erziehung in unserer Hundeschule auf.

Diese Herangehensweise ist anstrengend und bedeutet Arbeit und Aufwand. Aber so ist es möglich, in Zusammenarbeit von Mensch und Hund, ein problemfreies und harmonisches Hund-Mensch-Team zu schaffen, ohne dass wir Hunde tauschen oder ihnen eine bestimmte Rudelstellung zugestehen. Unser Hund ist sichtbar trotzdem glücklich.

Weiterführende Links und Quellenangaben: